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Die Leseprobe

Prolog

 

 

Draußen peitscht ein zorniger Wind den Regen gegen die verwitterten Holzplanken der abgelegenen Hütte.

Drinnen, in dem bescheidenen Zimmer, welches Küche, Esszimmer und Wohnzimmer vereint, knistert ein warmes Feuer. Mehrere Kerzen tauchen das spärliche Inventar in samtig weiches Licht. Es entlockt den lebensfrohen Darstellungen auf den Wandvorhängen romantische Farben. In der Luft hängt der Duft einer kräftigen Gemüsesuppe.

Gerade räumt die zierliche alte Frau den Tisch ab. 

Ein quirliger Vierjähriger tanzt um sie herum und singt: „Jetzt gibts eine Geschichte. Jetzt gibts eine Geschichte. Da freu ich mich. Da freu ich mich. Da freu ich mich ganz sehr.“

Kaum hat sie sich im Lehnstuhl neben dem Fenster niedergelassen, klettert der Junge rittlings auf ihre Beine. Erwartungsfroh schaut er sie an.

Zunächst tut sie so, als müsse sie angestrengt überlegen. Sie legt ihre Stirn in Falten und tippt sich ans Kinn: „Hmm … welche Geschichte passt wohl am besten zu dem stürmischen Wetter da draußen? Vielleicht die über den verträumten kleinen Wolf, der seine Familie sucht? Oder die von der neugierigen Sternschnuppe? … ach, da wäre ja auch …“

Um es der geliebten alten Frau leichter zu machen, springt der Kleine mit begeisterter Stimme ein: „Bitte, bitte, erzähl mir die von dem größten aller Helden, du weißt schon welche. Bitte, bitte.“ Seine Augen leuchten, während er eifrig nickt.

„Aber ja“, erwidert die geduldige Alte scheinbar überrascht. „Du hast recht. Die ist genau die Richtige.“

So viele Male hat sie diese alte Legende bereits vorgetragen. Doch der aufgeweckte Junge hat noch immer nicht genug.

Die alte Frau schaut ihn liebevoll an und beginnt. Sie ist eine wundervolle Geschichtenerzählerin. 

Mit ihrer ausdrucksstarken Sprache malt sie lebendige Bilder von Heldenmut, von der Kraft des Guten und der unerschütterlichen Stärke einer verlässlichen Gemeinschaft direkt in sein Herz. 

Mit strahlendem Blick hängt der Kleine an ihren Lippen. Sein zarter Mund formt stumm jedes einzelne Wort nach. Der Abschluss der Geschichte ist längst ein geliebtes Ritual.

Begeistert reißt der Junge seine Ärmchen in die Höhe. Die alte Frau umfasst seine Hände. Ihr kraftvolles Duett verzaubert die kleine Hütte: „Wann immer es die Not gebietet, bringt die Welt jene hervor, die das Beste aller Völker in sich vereinen. Gemeinsam überwinden sie alle Finsternis!“ 

 

 

 

Veränderungen

 

 

Dunkel ist es geworden und kalt, als Miro sich erhebt und über die Wiesen hinüberschaut zu dem kleinen Licht, das Okimas alte Hütte in die erwachende Dunkelheit schickt. Den beißenden Wind, der eine ungemütliche Nacht ankündigt, nimmt der Vierzehnjährige nicht wahr.

Seit Wochen ist er jeden Abend hier und hofft, doch vergebens. Die erdrückende Ohnmacht schafft Raum für düstere Gedanken. Stetig gewinnen sie an Macht und schnüren sich immer enger um sein Herz. Selbst die tapfersten Hoffnungsschimmer stehlen sich aus seiner Seele davon, still, aber unaufhaltsam.

Dabei liebt Miro diesen Ort auf dem sanften Hügel, der über alle Kuppen der Siedlung hinausragt, mit seinem mächtigen Baum, der als weise Eminenz die Landschaft krönt. 

Hier fand er immer Kraft. Hier verblassten alle Sorgen. Denn er kann den Strom des Lebens in sich spüren, wenn er seine Hände an die Borke des Baumes presst und noch viel intensiver, wenn er Brust und Kopf mit dem Stamm vereint. Der Widerhall dieses uralten Wesens lässt Miros Herz weit werden. Stille Momente, die ihn beflügeln und eine alles umfassende Freude erschaffen. Oft erblühen dabei Bilder von einem vertraut wirkenden Ort, an dem es nichts als Liebe gibt. Doch lange schon erreicht ihn dies nur noch als zarter, zerbrechlicher Hauch, leichte Beute für dunkle Vorahnungen. 

 

Miros Gedanken drehen sich im Kreis. Sie beginnen immer mit denselben verlorenen Szenen, genau hier.

Unter dem dichten Blätterdach des riesigen Baumes hat er unvergessliche Stunden mit Varnuriel verbracht, hat ihm zugehört, Fragen gestellt und so viele Antworten gefunden. 

Varnuriel - ein schier unversiegbarer Quell des Wissens über das komplexe Miteinander im Werden und Wachsen der Dinge. Obwohl Miro von vielem nur eine ehrfurchtsvolle Ahnung erlangen konnte, ist Varnuriel für ihn der wunderbarste Lehrer auf der ganzen Welt. Woher Varnuriel damals gekommen war, vor fast vier Jahren, hatte Miro niemals erfragt. Sie hatten sich jedes Mal genau an jener Stelle getroffen, an der er jetzt steht. Und niemals hatte Varnuriel eine der Verabredungen versäumt. 

Doch seit dem Sommeranfang fehlt von ihm jede Spur. Miro ahnt mit wachsender Gewissheit, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Hässliche Visionen von gänzlich unbekannten Orten verstärken das Gefühl der sorgenvollen Wandlung.

Miro seufzt. Ohne es zu wollen, öffnet er seine wollene Jacke einen Spalt und streicht versonnen über das warme Holz des Instruments, das, mit einem Lederband um den Hals gebunden, sicher über seiner Brust ruht. Es ist ein Geschenk seines Baumes. Stets trägt er es bei sich. Es ist sein einziger Trost. 

Die zarten Melodien, die er ihm entlockt, entfalten in Miro ein Glücksgefühl, dem jeder Vergleich fehlt. Doch die unheilvollen Bilder in seinem Herzen verdünnen es mehr und mehr zu einem flüchtigen Moment.

Miro schließt die Augen: ‚Wie glücklich wir damals waren, Okima und ich, als Meister Elos mich als seinen Schüler aufnahm, der einzige Kundige weit und breit.‘ Ein resigniertes Lächeln umspielt seine Lippen, denn diese Freude hat er längst verloren. 

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